#29 | Die Akademie

“Lucien Lavanitas?!“ Der Kadett verschluckte sich beinahe an diesen Worten und seine Stimme brach, wurde zu einem Quieken.

Lucien gönnte sich ein Lächeln. “Das ist mein Name.“

“Und stimmt es was man sagt? Dass du der beste Schüler seit zweitausend Jahren bis? Hast du wirklich zwei ganze Semester übersprungen und dich für die Meisterkurse angemeldet? Sie sagen, dass du die Akademie wahrscheinlich als jüngster aller Magister abschließen wirst!“

“Lass mich nachdenken.“ Lucien legte den Kopf schief. “Da meine Graduation in ein paar Tagen stattfindet, stimmt das wohl.“

Der Junge schluckte. “Du hast schon abgeschlossen?“

Lucien sah den Schatten der Enttäuschung über das schuppige Gesicht gleiten. “Ja. Warum stört dich das?“

Verlegen senkte der Kadett den Kopf. “Es ist nur … als ich an die Akademie kam, hatte ich mir immer vorgestellt einer der besten zu sein. Ich bin ein guter Kämpfer. Und dann habe ich von dir gehört, wie du die Meister beeindruckt hast und so weiter und … irgendwie … ich dachte … Du warst mein Vorbild!“ Neue Tränen sammelten sich in seinen Augen, kullerten dick und schwer aber die hornigen Wangen. Schnell versuchte der Junge sie abzuwischen. “Und jetzt sieh mich an!“ Er heulte auf. “Ich bin ein Nichtsnutz! Ich habe nicht einmal meine erste … Verwandlung hinbekommen. Und du wirst in ein paar Tagen …“

Lucien sah ihn an. Er konnte sich einfach nicht von diesem herrlichen, erbärmlichen Anblick losreißen. Seine Lippen kräuselten sich. Aber dieses Mal hielt er das Lachen zurück. Stattdessen legte er die Hand auf die Schulter des Jungen und sagte: “Es ist kein Fehler sich große Ziele zu stecken. Und die meisten Kadetten scheitern bei der ersten Transmutation. Du hast das zumindest auf äußerst beeindruckende Art und Weise getan.“

Ein heftiges Schluchzen war die Antwort. Mit einem Seufzen richtete Lucien sich auf. “Steh auf. Lass mich sehen, was ich für dich tun kann.“

Der Junge stemmte sich in die Höhe und sah Lucien zuversichtlich an. Dem brach beinahe das Herz bei so viel naiver Zutraulichkeit. Der Kadett musste wahrlich noch eine Menge lernen, bevor er ein echter Bannbrecher werden würde.

“Du weißt, warum deine Verwandlung gescheitert ist?“, wollte Lucien wissen.

Der Junge nickte. “Die Unterschiede zwischen Mensch und Wyvern sind zu groß. Es sind Echsen, wir Säugetiere, sie haben sechs Gliedmaßen, wir vier, und … und …“ Er stockte.

Lucien lächelte wohlwollend. “Ja. Es wäre besser gewesen mit einem Hund oder dergleichen anzufangen. Ein großer Hund, damit auch die Masse möglichst gleich bleibt.”

Eifrig nickte der Junge.

“Gut. Denk’ beim nächsten Mal daran. Jetzt konzentriere dich auf deine ursprüngliche Gestalt, dann gebe ich sie dir zurück.“ Lucien legte seine Hände um den gehörnten Schädel des Kadetten, der die Augen schloss. Seine verfremdete Miene war voller Vertrauen und Zuversicht, die Lucien schmeichelten. Er hatte nie zuvor eine Transmutation begleitet. Und der Zustand des Jungen war ein sehr seltener Fall, der nur in wenigen Lehrbüchern beschrieben wurde. Lucien rief sich in Erinnerung, was er alles darüber gelesen hatte und ließ dann die Magie fließen.

Der Kadett zuckte und wimmerte leise.

“Still“, warnte Lucien. “Ich muss mich konzentrieren.“

Sein Versuchsobjekt biss die Zähne zusammen und kam gar nicht auf die Idee, Luciens unsanfte, forschende Methode in Frage zu stellen. Der Zauberer konnte nur hoffen, dass irgendjemand sich in naher Zukunft der schweren Aufgabe annehmen würde, dem Jungen etwas mehr Verstand und gesundes Misstrauen beizubringen.

Mit einem leisen Knirschen begannen die krummen Hörner zu schrumpfen. Das Geräusch, mit dem sich die Ohren in ihre runde Form zurück brachten, verbannte Lucien sofort wieder aus seinem Gedächtnis, bevor es ihm schlaflose Nächte bereiten konnte. Fasziniert verfolgte er den Weg, den die Magie nahm. Sie strömte aus seinen Fingerkuppen und Handflächen, durchdrang die Schuppen und wurde von den Gehirnströmen des Jungen aufgenommen und geformt. Es bedurfte einiger Jahre intensiver Vorbereitung, damit ein Nichtbegabter zumindest ansatzweise  in der Lage war Magie zu nutzen. Und selbst dann blieb die Verbindung meist unbewusst, auf einem sehr tiefen, körperlichen Level.

Lucien seufzte leise, als er spürte, wie wenig sein Versuchsobjekt tatsächlich von dem verstand, was vorging. Es war kein Wunder, dass die Transmutation gescheitert war. Und auch die Rückverwandlung hätte ein großes Problem werden können, wenn der Kadett nicht über ein erstaunlich ausgeprägtes und selbstbewusstes Körperbilde verfügt hätte. Das Vertrauen in seine kämpferischen Fähigkeiten und auch in Lucien waren die eigentlichen Gründe, weshalb bald schon alle Schuppen verschwunden und das Gesicht wieder die richtige Form und auch Farbe hatte. Lucien spürte, wie der Prozess immer langsamer wurde und kaum mehr Ressourcen benötigte. Der Fluss der Magie versiegte.

“Lass sehen“, murmelte Lucien und drückte das Kinn des Jungen hoch. Er war zufrieden mit seinem Werk, blickte in ein sehr junges Gesicht, aus dem ihm große, graue Augen entgegen leuchteten. Aschblondes Haar fiel in die breite Stirn, verbarg eine kleine, gezackte Narbe. Lucien strich darüber.

“Ist wieder alles in Ordnung?“, fragte der Junge atemlos.

Lucien nickte und zog an der Schulter des Kadetten, warf einen Blick auf seinen Rücken, der nicht mehr buckelig war.

Ein tiefes Seufzen entkam dem Jungen und Lucien fragte sich, wie alt er war. Sein Körper war wirklich stark und gut entwickelt, stand im Kontrast zu seinen fast kindlichen, arglosen Zügen und dem Leuchten in seinen Augen.

Lucien hab ihm einen Klapps auf den Hinterkopf. “Alles in bester Ordnung. Und ab jetzt passt du besser auf.”

“Danke!“, entfuhr es dem Jungen und er senkte mit einem verlegenen Lächeln den Kopf. “Entschuldige, dass ich dich … Euch! aufgehalten habe.“

Lucien blinzelte, als ihm klar wurde, dass er ganz vergessen hatte, weswegen er gekommen war. “Du gehst jetzt besser zurück in die Kaserne“, schlug er vor. “Ich denke du hast heute schon genug Ärger gehabt.“

Der Kadett nickte eifrig, sagte noch einmal: “Vielen Dank, Magister Lucien.“ und lief dann los, verschwand bald um die Ecke.

Lucien schüttelte den Kopf, trat ans Regal und ließ im Licht des Abraorb seinen Blick über die Buchrücken gleiten. Er las die Titel nicht, wurde ihm nach einigen Augenblicken erfolgloser Suche klar. Seine Gedanken waren woanders. Zum ersten Mal hatte ihn jemand Magister genannt. Lucien machte sich sonst nichts aus der Anerkennung anderer, er hatte selbst genug davon für sich. Aber dieses Mal ließ der Stolz Luciens Hände prickeln. Es war ein guter Abend gewesen. Er war nicht so verlaufen, wie Lucien ihn sich vorgestellt hatte, aber trotzdem gut. Die gelungene Transmutation war ein weiterer Erfolg, den er nicht jedem auf die Nase binden musste, sondern schön in der Hinterhand behalten konnte. Die Frage war nur, ob auch der Kadett Schweigen bewahren konnte. Lucien bezweifelte es und ein Lächeln glitt über seine Lippen.

Ich habe ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt.

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