#6 | Ashuraya
Ständig trieb der Wind dichte Wolken vom Meer in das abgelegene, enge Tal hinauf. Sie verfingen sich zwischen den schroffen Felsen, rissen auf und entluden ihre feuchte Last über den Alben und deren Städte, die sich an die Hänge klammerten wie schlafende Wyvern. Die Bewohner hatten sich an die Niederschläge gewöhnt, trotzten Regen und Schnee und den kalten, heulenden Winden. Sie hielten die Köpfe immer erhoben, blickten ihrer grauen, trostlosen Welt grimmig entgegen. Ihre Augen waren dunkel, oft grün, violett sogar, wenn in einem von ihnen ein Rest der alten Magie wiedergeboren worden war. Aber auch diese kleinen Hoffnungsschimmer konnten die Mienen der Alben nicht weicher machen. Nein, wenn einer von ihnen tatsächlich zum Magier geboren war, bedeutete das nur mehr Schmerz und Leid, bis seine Ausbildung zu Ende war. Die meisten von ihnen waren dankbar, dass sie nur der Militärdienst erwartete.
Das Leben in Fairan at Darnen hatte ein bitteres, hartes Volk hervor gebracht, beseelt vom Hass auf fast alles, was sich außerhalb ihrer Grenzen befand. Allen voran die Elfen und ihr helles, sanftes Reich Fai’Quivanna. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass es nicht das Schicksal und die äußeren Umstände gewesen waren, die Fairan at Darnen geschaffen hatten, sondern die Alben selbst, im Bemühen sich so weit und gründlich wie möglich von den Elfen zu entfernen, in allem ihr Gegenteil zu sein. Und dabei war vieles, was die Alben über ihre verhassten Verwandten wussten, inzwischen nur noch Legende. Kaum einer von ihnen hatte in den letzten fünftausend Jahren Fai’Quivanna betreten. Wenige Alben hatten überhaupt Fairan at Darnen verlassen, seit dem letzten großen Krieg vor einigen Jahrhunderten. Ab und an trieben sie Handel mit den Menschen, die sich gierig die Finger nach den Waffen der Alben leckten, die nach dem Verschwinden der Zwerge die besten ganz Asariens waren. Und auch diese Kontakte waren eher widerwillig und auf keinen Fall freundschaftlich.
Aber sie waren Marjellas Eintrittskarte nach Fairan at Darnen gewesen. Ihre kleine Gruppe zwielichtiger Gestalten, angeführt von Furgams vernarbtem Gesicht, war die perfekte Eskorte für den Karren, mit dem sie ihre wertvolle Fracht nun aus Ashuraya heraus bringen wollten. Das letzte Hindernis würden die Wachen am Tor sein, die merkwürdig aufmerksam waren.
Marjella biss sich bei ihrem Anblick auf die Lippen.
Die Aktion der letzten Nacht ist wohl nicht ganz unbemerkt geblieben. Das Verschwinden der Zielperson hat bestimmt schon irgendwo Alarm ausgelöst. Aber wir könnten nicht eher aufbrechen. Drei der Männer mussten sich erstmal von dem Kampf erholen, einer hat bis zum letzten Augenblick in tiefer Ohnmacht gelegen, verursacht vom Bannblattpulver.
Jetzt saßen die Männer zum Teil noch etwas wackelig auf den Pferden. Furgam hatte es mit dem Karren am besten. Er kaute gelassen auf seinem Tabak, spuckte einen Schwall bräunlichen Speichel aus und rief den gerüsteten und bewaffneten Alben am Tor zu: “Guten Morgen, die Herren! Dürfte ich euch bitten, ein wenig Platz zu machen?”
Die Wächter rümpften angeekelt die Nasen. Zwei von ihnen – in Rüstungen aus schwarzem Leder, mit scharf blitzenden Hellebarden und den typischen, hoch am Hinterkopf gebundene Zöpfen, dem Zeichen der Krieger – kamen herüber und ihre fahlen Gesichter verzogen sich immer mehr und mehr, umso tiefer sie in die Dunstwolke der Menschen gerieten. Einer der Kopfgeldjäger rülpste genüsslich und grinste dann wie ein kleines Kind. Marjella verdrehte die Augen unter ihrer Kapuze.
Ich muss ihnen allen wieder Manieren einprügeln, wenn wir hier raus sind. Und sie durch den nächsten Bach jagen. Ich hätte Seife mitnehmen sollen, viel Seife. Dieser Gestank muss ein Ende haben, ich kann so nicht arbeiten.
Aber noch war die Tarnung notwendig. Die Alben musterte die Menschen eingehend. “Was ist mit euch passiert?”, wollten sie wissen.
Furgam kratzte sich die immer noch geschwollene Nase. “Wir sind Menschen. Wir sehen immer so aus.”
“Ich weiß, dass ihr hässliche, stinkende Kreaturen seid. Aber es gab einen Kampf.” Der Alb deutete auf Marjella, der ein Schauder über den Rücken rann. Sie zwang ihren Instinkt zuzuschlagen zurück.
Keine Fehler jetzt. Wir müssen nur unbeschadet durchs Tor kommen.
Marjella hielt den Kopf gesenkt, während Furgam die Schultern hob. “Ach nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Der Junge hatte zu viel Glück beim Würfeln. Da haben die anderen dafür gesorgt, dass er zumindest kein Glück mehr mit den Weibern haben wird.” Furgam grinste breit. “Die Scheiße hat sich entzündet und wir hatten keine Zeit für einen Heiler. Deswegen stinkt es so.”
“Ihr stinkt alle”, knurrte der Alb und sah immer noch zu Marjella. “Er soll die Maske abnehmen.”
Furgam pfiff durch die Zähne. “Ist kein schöner Anblick, ich sags dir.”
“Maske runter!”
Furgam sah zu Marjella und nickte. Sie griff mit nach den Lumpen, die ihr Gesicht verhüllten. Allein der Gedanke daran ließ sie zittern, füllte ihren Mund mit bitteren Speichel. Ihre Kehle zog sich zusammen und ihr Magen protestierte, als sie ein paar der Bandagen zur Seite schob und die Überreste der toten Ratte enthüllte, durch deren Fleisch sich schon seit Tagen die Maden wühlten.
Der Alb starrte die Maskerade an. Sein Blick war voller Abscheu, ohne jegliches Mitleid. “Pack das weg.” Er hob die Hand vor die Nase.
Die Erleichterung durchflutete Marjella wie ein warmer Strom. Sie zog die Lumpen zurück.
Endlich! Endlich werde ich dieses verdammte Ding los! Ich werde mich ins Wasser setzen und so lange schrubben bis ich rot bin. Eine absolut beschissene Idee, aber sie hat funktioniert. Wir haben es geschafft. Ich habe es geschafft! Wir sind durch und das tatsächlich ohne größere Schwierigkeiten. Jetzt müssen wir nur noch …
Einer der Wächter stieß mit seiner langstieligen Waffe gegen die Seite des Karrens. “Was ist in der Kiste?”