Eine leere Seite, unberührt, rein, voller Erwartungen, voller Potenzial. Hier könnte das neue Meisterwerk der Menschheit entstehen. Ein neuer Herr der Ringe, der nächste Harry Potter. Hier könnten die Fragen geklärt werden, auf die es bisher nur die Antwort “42” gab.
Horror Vacui
Als Autor sitzt man davor, starrt sie an, zögert, zweifelt. Die Hände werden feucht, der Stift beginnt zu zittern. Das Herz schlägt schneller, die Ohren rauschen und dröhnen. Der Druck wächst mit jedem Augenblick, den man in Gegenwart dieser größten aller Gefahren, diesem Urmonster des literarischen – jedes künstlerischen Schaffens! – verbringt: die weiße Fläche. Man sitzt da und starrt sie an wie ein lahmes Kaninchen, das in die Scheinwerfer eines heranrauschenden 18-Tonners blickt.
Die Angst vor der leeren Seite. Die Angst, ihren Ansprüchen, den Erwartungen der Gesellschaft nicht gerecht zu werden, das eigene Potenzial zu verschenken. Oder es vielleicht nie besessen zu haben.
Eine schmerzhafte Erfahrung, die viele Autoren jedes Mal aufs Neue machen, wenn sie sich an das nächste große Projekt wagen wollen.
Die Angst lähmt, raubt Motivation und Energie. Sie kann der Beginn einer anhaltenden Schaffenskrise sein. Keine Schreibblockade, kein Hindernis auf dem Pfad zum Erfolg – man macht sich nicht einmal auf den Weg, weil man Angst hat es könnte unterwegs regnen.
Auf der Zielgeraden
Seltsamerweise bin ich persönlich davon nur marginal betroffen. Ich gebe zu, es fällt mir schwer schöne Notizbücher zu benutzen, die ich mir extra gekauft habe weil ich mir dachte “Das ist genau das Richtige für dein nächstes Projekt!” Ich vergreifen mich dann lieber an zerfledderten Schulheften und Collegeblöcken. Und ein weißes, leeres Word-Dokument? Ha! Her damit!
Ich habe keine Schwierigkeiten damit anzufangen, einfach die Worte so niederzuschreiben wie sie mir in den Sinn kommen. Ich fürchte ich bin etwas zu arrogant dazu, etwas zu sehr von meinen Fähigkeiten als Autor überzeugt. Oder inzwischen auch einfach zu erfahren. Ich weiß, dass es nicht gleich perfekt sein muss. Nur da muss es sein, damit man damit arbeiten kann, es zurechtbiegen, ausholzten, ergänzen, polieren.
“The first draft of everything is shit.”
Nein, mein Problem ist ein ganz anderes. Es begegnet mir am gegenüberliegenden Ende des Spektrums der Autorenängste: ich breche regelmäßig auf der Zielgeraden ein. Durchhänger im Mittelteil überwinden ich mit ordentlichem Den-inneren-Schweinehund-niederringen. Aber wenn das Ende in Sicht kommt … Oh schaut doch! Dort drüben!
The last Goodbye
Ich habe einige Zeit darüber gerätselt, woran es liegen könnte. Bei Feuergabe ist es mir schon passiert – fünf Kapitel vor dem Ende, knapp vor einem der letzten Höhepunkte. Und auch bei Königskinder fehlt mir eigentlich nur noch der letzte Teil, die Auflösung von allem. Ich habe sie im Kopf. Aber ich bekomme sie nicht dort heraus.
Es liegt wohl daran, dass ich ein ziemlich emotionaler Mensch bin … ja – nahe am Wasser gebaut, ich gebe es zu! Ich stürze mich gerne tief in meine Geschichten, baue eine enge Bindung zu meinen Figuren auf. Und dann soll das alles plötzlich vorüber sein?
Meine Autoren-Kollegin Sylvia Rieß hat eben das gerade durchgemacht – sie hat ihre Trilogie Der Stern von Erui beendet und dazu auf ihrem Blog geschrieben, wie schwer ihr dieser Abschied fällt. So glücklich man als Autor auch darüber ist, ein Werk zu vollenden, so herzzerbrechend ist die Gewissheit, dass man die Welt, die man erschaffen hat, verlassen muss – womöglich für immer.
Ein Lichtblick
Manche Autoren umgehen dieses Problem, indem sie Szenen sammeln “was danach noch geschah”. Oder sie planen im Hinterkopf eine Fortsetzung. Es hilft nicht immer, aber es lindert doch den größten Schmerz, zu wissen, dass da noch mehr ist.
Was mir meistens hilft, über diesen toten Punkt weg zu kommen, ist der Gedanke, dass meine Geschichte fertig werden muss – vollkommen. Nicht im Sinne von “beendet” und nicht im Sinne von “perfekt”. Nein – eine Geschichte ist erst dann wirklich vollkommen, wenn man sie jemanden erzählt hat. Wenn sie aus dem Kopf und dem Herz des Autors heraus den Weg über Worte und Tinte, Bits und Bytes, Bildschirm und Papier zum Leser gefunden und einen Platz in seinem Kopf und seinem Herzen erhalten hat. Dann erst ist das Werk vollbracht und der Autor am Ziel seiner Träume.
Oder, wenn eine Fortsetzung nicht möglich ist, dann schreiben sie sich eine 100 000-Wort große Anleitung für eine Prequel-Trilogie 😉
Dein Artikel fängt sehr schön ein, was so ziemlich einer der schwierigsten Momente beim Schreiben ist. Das loslassen, das Wiederabgeben. Man hat die Geschichte bekommen und sie in eine Form gebracht, in der hoffentlich möglichst viele ihrem Zauber erliegen, so wie man selbst beim immer wieder neuen Erträumen und Eintauchen. Aber man kann sie eben entweder in diesem Vakuum festhalten, oder man kann sie der Welt schenken.
100.000 Worte … Es gibt immer was zu tun 😉