Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Dem Thema der Plotbunnies hatte ich ja bereits einen eigenen Beitrag gewidmet. Im Moment ist es für mich wieder sehr aktuell, da mir andauernd neue Ideen für Romane oder auch Kurzgeschichten über den Weg laufen und ich mit dem Notieren kaum hinterher komme. Und bei praktisch jeder dieser neuen Ideen frage ich mich: habe ich das nicht schon mal irgendwo gelesen oder gesehen oder gehört?

 

Ätherrauschen

Es ist fast unmöglich eine vollkommen neue Idee zu haben. Inspiration beziehen auch wir Fantasy-Autoren oftmals aus dem Alltag. Einem Alltag, der heutzutage geradezu mit Medien vollgestopft ist. An jeder Ecke begegnen uns Geschichten, Figuren, Konflikte, Settings, … es ist eigentlich unmöglich, nicht inspiriert zu werden. Man nimmt mit was man kriegen kann – der Jäger und Sammler ist auch in uns Autoren tief verankert – und versucht dann irgendwann aus all diesen Versatzstücken etwas Neues und Spannendes zu schaffen.

 

Das klingt im ersten Moment unheimlich motivierend. Doch im Umkehrschluss bedeutete es auch, dass es fast keine Idee gibt, die nicht schon mal jemand vor uns gehabt hat. An schlechten Tagen überkommt einen der Eindruck, dass es seit Jahren, wenn nicht gar Generationen nichts Neues mehr gab. Die meisten Filme scheinen nur noch Referenzen und Hommagen zu enthalten, ganze literarische Genre sind augenscheinlich ein einziger Aufguss von vielleicht drei stilbildenden Werken.

Als Autor kann man da auch gerne mal ein wenig verzweifeln – man saugt sich etwas komplett Innovatives aus den Gehirnwindungen und ein paar Minuten mit Google ergeben mindestens ein Dutzend vergleichbare Werke mit ähnlicher Thematik, gleichem Twist, identischen Figuren.

 

Reizhusten

Aber die Kollegen werden mir zustimmen, wenn ich jetzt sagen: das spielt keine Rolle. Hat sich eine Idee erst einmal in uns festgefressen, muss sie auch verarbeitet werden. Es ist wie mit dem Niesen – das muss einfach raus. Es mögen Themen sein, die schon unendlich oft durchgekaut wurden, Konflikte, die dutzende Male besprochen wurden, in den verschiedensten Ausformungen, mit den unterschiedlichsten Ergebnissen – nur ganz gelöst, wurden sie offenbar noch nie, sonst würden uns diese Fragen und Probleme nicht immer noch so sehr beschäftigen, dass wir ihnen unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. Manche werden nie gelöst werden. Andere entwickeln sich immer weiter. Ein paar, werden wir nie beantworten können, weil das in ihrer Natur liegt. Genauso wie es in unserer Natur liegt, trotzdem nicht locker zu lassen und immer weiter nachzuforschen, nachzudenken, nachzuhaken.

Das geht soweit, dass wir nicht nur immer wieder Themen aufgreifen, die von zahlreichen Autoren, Filmemachern, Musikern, bildenden Künstlern und dergleichen bereits mehrfach bearbeitet wurden. Manche Autoren haben ganz persönliche Lieblingsthemen – Grundsatzfragen, die sich durch ihr gesamtes Werk ziehen, deren verschiedene Aspekte sie immer wieder neu durchleuchten, in unterschiedliches Licht rücken und von vollkommen neuen Seiten betrachten.

Bei mir selbst, scheint es das Thema „Familie“ zu sein. Dazu gehören für mich nicht nur familiäre Beziehungen, sondern vor allem auch Fragen nach Identität und Verantwortung – was bestimmt, wer wir sind und wohin führt uns das? Irgendwann ist mir schließlich sogar aufgefallen, dass sowohl in der (geplanten) Fortsetzung von Feuergabe und in Königskinder ein zentraler Satz der gleiche ist: „Ich will meinen Bruder zurück.“

 

Kleptomanie

Das Aufgreifen bekannter und gesellschaftlich und kulturell zentraler Fragestellungen ist also kein Problem, sondern macht meiner Meinung nach vielmehr den Kern unseres Schaffens als Autoren, als Künstler aus. Schwieriger hingegen wird es, wenn es nicht um Grundsatzfragen geht, sondern um die konkrete Ausgestaltung in Figuren, Handlung, Setting.

Was mich zu dem eigentlichen Grund bringt, weshalb ich mich seit einiger Zeit gedanklich mit diesem Thema befasse: ich lese sehr gerne für andere Autoren test oder auch beta. Ganz konkret heißt das, dass sie mir ihre praktisch fertigen Manuskripte zusenden und ich diese entweder als kritischer Leser oder gar als Lektor durchgehe, auf Logiklücken und Inkonsistenzen, Stil und Redundanzen hin untersuche. Das meiste, was ich lese gefällt mir. In manchen Fällen aber denke ich mir: „Das hätte ich jetzt anders gelöst.“ In solchen Situationen schreibe ich dem betroffenen Autor dann eine kurze „Fanfiction“ – meine Version seiner Geschichte, als Grundlage für eine Diskussion über die Fürs und Widers oder auch als Startschuss für ein Brainstorming, in dem ein Mittelweg gefunden wird.

 

Ich persönlich mag diese Art der Zusammenarbeit und die Ergebnisse sind meist für beide Seiten befriedigend.

Was aber, wenn es sich nicht um ein unveröffentlichtes Manuskript handelt, sondern um ein fertiges Werk? Ich glaube nicht nur Autoren geht es manchmal so, dass sie ein Buch lesen oder auch einen Film sehen und sich irgendwann denken: „Also ich hätte das ganz anders gemacht.“ Als normaler Leser lebt man dann einfach mit diesem scheinbaren Manko oder legt einfach das Buch bei Seite. Als Autoren hat man es da schwerer. Mir zumindest lassen solche Fälle keine Ruhe – mein Kopf schreibt dann die betreffenden Szenen und Dialoge von selbst um oder strukturiert gleich den ganzen Plot neu.

Und hier beginnen dann die wahren Probleme – wenn man plötzlich dasteht und ein eigenständiges Werk hat, das unbedingt heraus will (wir erinnern uns an das Niesen), aber genau weiß, dass es eigentlich das Werk eines anderen ist, das man gekapert und einer Gehirnwäsche unterzogen hat. Erklär das mal einem Kollegen, den du sehr schätzt.

 

Gewissensbisse

In solchen Momenten bleiben einem nur wenige Möglichkeiten: die Luft anhalten, bis der Kopf explodiert und sich somit die Sache von allein löst; oder tatsächlich eine Fanfiction schreiben und sie demütig gesenkten Hauptes Senpai überreichen; oder man macht sich an die langwierige, schwierige und mitunter auch frustrierende Arbeit genau zu analysieren, welche Elemente des zur Debatte stehenden Werkes denn nun genau der Stein des Anstoßes sind, zu überprüfen, wie man sie anders umsetzen könnte, oder ob sie vielleicht sogar in irgendeiner Form in einem bereits bestehenden Projekt mit verarbeitet werden können, um so die Spuren zu verwischen. Besonders ermüdend in diesem Fall ist auch die andauernde Frage, wo das Plagiat beginnt oder endet – was ist Schöpfungshöhe? Komme ich über diese ominöse Größe, oder kann ich darum herum schleichen? Wenn ich es schaffe und man den Ursprung der Figuren und Ideen nicht mehr erkenne kann, hat sich dann nicht auch die Aussage verändert, die ich eigentlich treffen wollte? Bin ich nicht übers Ziel hinaus geschossen, vom Weg abgekommen? Ist das gut so? Und in wieweit erfüllt das Werk, das mich durch seine scheinbare Mangelhaftigkeit inspiriert hat, diese Kriterien? Sind die Figuren, die mich verärgert haben vielleicht doch auch nur Abbilder älterer Ideen, Stereo- und Archetypen? Ist es dann vertretbarer, zu kopieren und zu verdrehen? Oder gar noch verwerflicher?

 

Fragen über Fragen und ich habe nicht einmal auf die Hälfte davon wirklich Antworten.

2 Kommentare zu „Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

  1. Ich denke, so wie du das auch schon angedeutet hast, dass es nichts Verwerfliches ist, dass es „unter der Sonne nichts Neues“ mehr gibt. Diese Erkenntnis ist zumindest auch bei Literaturwissenschaftlern angekommen, die Literatur als Postmoderne aufgreifen. (Witz an der Sache: Der Begriff selbst stammt schon aus dem 19ten Jahrhundert.) Zumindest hat mir das ein befreundeter Lehrhamtsstudent mit recht abgeklärten Habitus vor einer Weile erzählt. Was ich sagen will: Was solls, dann gibt es nichts Neues. Wenn man sich Literatur anschaut, geht es im Grunde auch immer wieder um die grundlegendsten Dinge. Wer bin ich, wo ist mein Platz in der Welt, Ich möchte so gerne lieben und geliebt werden, und in Frieden ohne Nöte leben wäre auch ganz fein. Ich stimme dir da in allen Punkten zu.

    Das andere ist natürlich die konkrete Umsetzung wie du sagst. Da danke ich dann, dass man sich gut aus der Affäre ziehen kann, indem man hinterfragt, warum einem diese oder jene Stelle nicht gefallen hat und warum man das so und so anders gemacht hätte. (S. deine Frage am Ende, was ist, wenn Figuren dich verärgerten.) Entweder liegt das dann an persönlichen Vorlieben oder es sind tatsächlich Schwächen im Originalwerk. Seien es Denkfehler oder Auflösungen, die zuvor nicht glaubhaft genug angelegt wurden. Zumindest ist es mein Ansatz. Den Drang, Sachen umzuschreiben, habe ich nur noch selten. Es ist nicht mein Werk, warum sollte ich es ändern wollen. Vor allem ist es meistens schon veröffentlicht und damit der Drops gelutscht. Ich versuche meinem Kopf erst gar nicht die Möglichkeit zu geben, sich so tief reinzuhängen. Eher versuche ich bei meinen Geschichten darauf zu achten, nicht dieselben Fehler zu machen. ;D

    Zitat: „Wenn ich es schaffe und man den Ursprung der Figuren und Ideen nicht mehr erkenne kann, hat sich dann nicht auch die Aussage verändert, die ich eigentlich treffen wollte? Bin ich nicht übers Ziel hinaus geschossen, vom Weg abgekommen? Ist das gut so?“

    Hm, schwierig. Kommt immer auf das Ziel an, warum man Version 2.0 schreibt. Ist der Zwecke die Verbesserung in Bezug zum Original, ist das natürlich dumm gelaufen. Willst du es allgemein besser machen, ist so eine Verfremdung wünschenswert. Die Linie ist dünn. Hängt vom Autor ab, was er für sich damit bezweckt.
    Ich denke auch, dass sich ein richtig gutes Werk nicht bis zur Unkenntlichkeit verfremden lässt. Das hieße ja, dem Werk seine Individualität zu nehmen. Am Ende hätte man dann eine Geschichte, die mit denselben Grundbedürfnissen spielt und sich vermutlich an einem Masterplot orientiert (s. Ronald B. Tobias; als konkretes Beispiel: Heldenreise), in der Ausarbeitung und den Ideen dahinter völlig anders ist. Eine „virtuelle“ Schöpfungshöhe ist, denke ich, dann erreicht, wenn der Rhythmus der Welt, die unformulierten Ideen und Weltanschauungen dahinter, einmalig sind. In der Hinsicht ist auch jeder Autor anders. (Die Schöpfungshöhe wird von Juristen sicherlich anders aufgefasst. Ich glaube, die beziehen das immer nur auf die konkrete Ausformulierung und nicht auf den Ideenkosmos dahinter.) In einer, meiner Meinung nach, guten Fanfiction merkt man das auch. Sie bedient sich zwar deutlich der Ideenwelt eines anderen Autors, steuert aber selbst auch neue Ideen bei.

    1. Bei mir kommt dieser Drang etwas umzuschreiben wirklich meist dann, wenn mich etwas richtig begeistert. Deswegen nenne ich es ja auch „Fanfiction“ 😉 Ich glaube es sind auch tatsächlich immer die Figuren und deren Prämisse, die mich dazu verleiten – Figuren, die ich unheimlich gut charakterisiert finde, die etwas Einzigartiges haben, stark sind, zu denen ich gleich einen Draht entwickle – und dann kommt der Punkt, in dem ihre Entwicklung irgendwie einbricht. OCC – out of character, oder eine der Eigenschaften, die ich als prägend und wirklich spannend empfunden habe, tritt in den Hintergrund … ob das nun mangelhaftes Autorenhandwerk ist oder schlicht eine Entscheidung, die der Autor treffen musste, um das zu erzählen, was er erzählen will, ist dann schwer zu sagen. Vor allem für mich selbst, da ich in dem Moment verwirrt und auch enttäuscht bin – objektive Meinung Ade!
      Und gerade deswegen ist es so schwer, zu entscheiden, ob und wie man aus diesem Drang, das ganze „richtig“ zu stellen mehr macht als ein Gedankenexperiment – man ist ja wirklich von dem Werk begeistert, von den Figuren und es sind eben die konkreten Details, die starke weil unverwechselbare Prämisse der Charaktere, die man als Grundstein verwenden müsste. Und da wird es dann schwierig.
      Meine Vorgehensweise in einem konkreten Fall war, dass ich ganz einfach die betreffende Autorin angeschrieben habe, ihr ein paar meiner „eigenen“ Ideen geschildert und sie gefragt habe, was sie davon hielte, wenn ich das tatsächlich umsetzen würde. Am Schluss sind wir so verblieben, dass ich das Manuskript (für den Fall, dass es tatsächlich soweit kommt) ihr zum Testlesen und Absegnen geben würde. Rein aus Respekt vor Autor und Werk und meinem eigenen Bedürfnis heraus, niemanden an den Karren zu fahren.

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