#32 | Stilles Wasser
Dereinst hatte ich einen Traum – ich träumte ich sähe einen Raum, dessen Decke und Wände die Unendlichkeit waren. In seiner Mitte lag die Welt, ausgebreitet wie auf einem Tisch, und darum herum saßen die sieben Herren des Schicksals, die Götter, für mein sterbliches Auge kaum erkennbar in ihrer Herrlichkeit – größer als Berge, wolkenverhangen. Sie bemerkten mich nicht, denn ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Welt. Vor sich hatten sie Spielkarten und unter ihnen kreisten die Würfel, ihr Rollen wie das Klirren von Stahl. Und wohin sich ihre Blicke richteten, färbte sich die Welt rot von Feuer und Blut.
Die Götter spielten – die Welt ihr Spielfeld und wir – die Kinder Asariens – ihre Figuren.
Meinem Sinn blieb verborgen, ob sie gegeneinander spielten, oder alle zusammen gegen den Achten, den Einen, dunkler als Schatten und mit einem Blick wie Verderben, der den Titel Meister trug.
***
Marjella behielt Vargas im Auge. Zunächst mit natürlichem Misstrauen. Dann aber mit wachsender Anerkennung, die sie sehr sorgfältig verbarg. Und schließlich mit immer größer werdender Sorge.
Der Alb war ein ganzes Stück voraus gelaufen und hielt von einer Hügelkuppe aus Ausschau. Geduckt, immer in der Deckung von Büschen und hohen Gräsern, war er dort hoch geschlichen, seine Bewegungen effizient und geschmeidig, seine Sinne immer geschärft. Für einige Augenblicke hatte er gekauert, bis er sicher gewesen war, dass er selbst von niemandem gesehen werde konnt. Erst dann hatte er sich erhoben und stand nun hoch aufgerichtet da, ließ seinen Blick über die Landschaft vor sich schweifen.
Marjella schloss zu ihm auf. Sie war müde. Seit Jahren schon war sie keine Fußmärsche mehr gewöhnt. Und sie war auch nicht daran gewöhnt, dass ihre Begleiter sie ausstachen was Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Wahrnehmung und Stärke betraf. Sie hatte sie sich immer nur mit Menschen zusammen getan. Halblinge, mit denen es immer nur Scherereien gab, mied sie. Elfen mieden Marjella. Ein Alb …
Mutter hätte mir wirklich die Ohren lang gezogen. Und dabei gelacht bis ihr der Atem weg bleibt. Und ich hätte ihr nicht einmal wirklich erklären können, wie ich hier rein geraten bin.
Vargas deutete nach Süd-Osten, wo am Horizont grau-brauner Dunst aufstieg. Marjella kniff die Augen zusammen.
“Dagab, vermute ich.“ Sie atmete auf. “Das ist die größte Stadt westlich des Tamur. Morgen Abend könnten wir dort sein.“
“Morgen Abend?“, knurrte Vargas. “Ohne dich wäre ich viel schneller.“
Marjella schnaubte. “Ja. Und was machst du in Dagab? Mit wie vielen Menschen hast du schon geredet? Weißt du wie man mit ihnen verhandelt? Und selbst wenn du es hinbekommen würdest unsere Sachen zu Geld zu machen – der Ork folgt mir. Nicht dir.“
Sie beide sahen zurück. Ihr stummer Begleiter wankte gerade den Hügel herauf. Auf seinem Rücken lasteten noch immer ein Berg aus Beute. Marjella ließ nichts zurück was noch irgendwie von Wert sein konnte.
“Die Hälfte ist überflüssig. Ich will endlich voran kommen!“ Vargas’ Blick glitt zu dem grünen Seelenstein an Marjellas Gürtel. Seine dunklen Augen glommen auf. Marjella sah wie seine Schultern zuckten, als er ein Schaudern abschütteln.
Sie seufzte. “Du tust es schon wieder.“
“Ich tue gar nichts!“, schnappte Vargas und wandte sich ab.
“Du lässt ihm zuviel Raum“, sagte Marjella ruhig. “Du …“
“Sag mir nicht, was ich zu tun habe. Du bist an allem Schuld!“ Vargas’ Kiefer verkrampfte sich, als er versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu bringen. Ein schriller Unterton hatte sich unter seine Worte gelegt und alarmierte Marjella.
“Beruhig dich.“
Vargas knurrte: “Gib mir was zu Trinken.“
“Ich habe nichts. Nur das Orkgebräu.“
“Du lügst.“ Vargas funkelte sie an. Er veränderte seine Haltung, bereit zum Angriff. “Ich kann es riechen.“
Marjella verschränkte die Arme vor der Brust. “Auf diese Art kommen wir noch langsamer voran.“
Vargas unterdrückte einen Aufschrei und sank in die Hocke. Er blieb so sitzen und sein Kopf rollte hin und her. Marjella beobachtete es mit einem mulmigen Gefühl. Sie wagte nicht nach ihrem Schwert zu greifen.
Es wird schlimmer. Das ist jetzt schon das dritte Mal heute. Er merkt gar nicht wie der Prismar in ihm arbeitet, aus welchen Kleinigkeiten er einen Streit produzieren kann.
Sie waren seit fast drei Tagen zusammen unterwegs und Vargas hatte sich als mehr als nur nützlich erwiesen. Es war schon beinahe erschreckend gewesen, mit welcher Präzision er sich nach der Aussprache an die Arbeit gemacht hatte: er hatte seine Wunden versorgt und aus dem Beuteberg auf dem Rücken des Orks alles hervor gekramt, was ihm nützlich sein konnte. Die Ausrüstung hatte er gereinigt und in Stand gesetzt, soweit das nötig gewesen war.
Marjella knirschte mit den Zähnen. Vargas hatte auch die albischen Waffen an sich genommen, die sie in Ashuraya gekauft hatte. Sie hatte nicht protestieren können. Der Streit war halbherzig und kurz gewesen und nur der Anfang der kleinen und andauernden Sticheleien, mit denen sie sich die Zeit vertrieben hatten. Es war alles gut gelaufen. Erstaunlich gut. Dann hatte der Dämon wieder an Kraft gewonnen und Vargas’ Laune wurde mit jeder Stunde übler. Marjellas Bemerkungen und Ratschläge prallten an ihm ab. Es gab kaum noch etwas, das sie tun konnte oder auch wollte.
Nicht das schon wieder. Ich habe genug gesehen. Da ist soviel Mist in ihm, soviel Dunkelheit … kein Wunder, dass der Prismar sich in ihm wohl fühlt. Was für eine Scheiße.
Vargas verharrte immer noch, aber das Zucken und Winden hatte aufgehört. Eine gespenstische Stille lag über dem Hügel und ganz langsam ließ Marjella die Hand in Richtung ihres Schwertes sinken. Eine Provokation, eine falsche Geste – mehr brauchte es nicht um den andauernd schwelendem Zorn, den Hass aufflammen zu lassen und das brüchige Bündnis zwischen Alb und Halbelfe zu zerstören.
Das kann nur schief gehen. Jemand will, dass es schief geht. Jemand wollte dieses Ding in ihm haben – frei und unkontrollierbar. Wir wurden reingelegt. Ich wurde reingelegt. Usmar wird mir einige Fragen beantworten müssen. Wenn er die Gelegenheit dazu bekommt …
Vargas’ Kopf ruckte nach oben und er stand auf. Seine Bewegungen hatten ihre Kraft und Geschmeidigkeit verloren. Das Feuer in seinen Augen war erloschen und er wirkte müde und abgekämpft.
“Ich kann dir helfen“, murmelte Marjella.
“Ich will dich nicht in meinem Kopf“, schnaubte Vargas. “Kapier das endlich.“
Mit einem Seufzen deutete Marjella auf ein nahes Waldstück. “Lass uns einen Platz für heute Nacht suchen.“ Bevor Vargas auffahren konnte, hob sie beschwichtigend die Hände. “Wir brauchen beide Ruhe. Und ich will dir etwas zeigen.“