#31 | Die Akademie

Die Glocken von Zaraban läuteten. Jede einzelne von ihnen hatte ihre Stimme erhoben, füllten die Abendluft mit dichter Vorfreude. Der bronzene Chor rief alle Bewohner der Stadt zusammen. Die Tore der Akademie waren den normalen Bürgern nicht verschlossen, doch die vermieden es zumeist, sie zu durchschreiten und die Zauberer zu stören. Zu groß war der Respekt vor diesen Männern und ihrem bedeutenden Werk.

Heute aber war ganz Zaraban eingeladen und wer konnte der kam, mischte sich unter das bunte Treiben, das den großen Haupthof, die Lauben, die Säle und Hallen erfüllte. Unzählige Stimmen lagen in der Luft, verwoben sich mit Musik und Gelächter. Ein süßer Duft zog durch die Gärten, wo die Studenten ihre Kunst bewiesen und alle Blüten zugleich hatten erblühen lassen. Wein wurde ausgeschenkt, Essen gereicht – ob an der langen Tafel des Banketts oder auf den weitläufigen, gepflegten Rasenflächen zwischen den Gebäuden. Es würde ein herrlicher Abend werden, dafür sorgten die Wetterzauberer und sobald die Sonne untergegangen war sollte ein prachtvollen Feuerwerk den eigentlichen Festakt einläuten: die Graduation der Magister und die Ernennung ihrer Bannbrecher. Zusammen würden diese Männer fortan den Mächten des Chaos die Stirn bieten.

Die ganze Akademie summte wie ein Bienenstock. In Luciens Ohren klangen die zahllosen Stimmen wie das Geschnatter eines großen Schwarms Ziervögel. Bunt und hirnlos.

Er sah dem Treiben für einige Zeit zu und fasste schließlich einen Entschluss. Wobei das nicht ganz stimmte – die Entscheidung war schon vor langer Zeit gefallen. Lucien verlegte nur die Umsetzung ein klein wenig vor, um einigen zusätzlichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.

Mit einem Lächeln entschuldigte er sich bei seinen Kollegen, stellte sein Glas auf dem Tablett eines Pagen ab und kehrte dann dem Ganzen den Rücken.

Er suchte sich seinen Weg durch die Hallen und Korridore, schlängelt sich an den Trauben von Schaulustigen vorbei und ließ alles hinter sich zurück – Menschen, Titel, Anerkennung die nur aus Worten bestand. Was war das schon? Welchen Sinn machte es? So vergänglich, so unbedeutend.

Es war nicht so, dass Lucien nichts mit ehrlicher Anerkennung anzufangen wusste. Aber sie war so frustrierend selten. Zu oft war sie hohl, eine Fassade hinter der Misstrauen, Neid und fremde Interessen verborgen lagen.

Lucien wandte sich davon ab. Der Lärm um ihn herum schwand. Die Menschen blieben zurück. Stille empfing ihn und er atmete auf. Nur das Geräusch seiner eigenen Schritte hallte von den Wänden wieder. Mehr brauchte Lucien nicht.

“Magister Lucien!“

Ich hätte es wissen müssen.

Mit einem Lächeln verharrte Lucien, drehte sich um und sah dem Jungen entgegen, der ihm nachgelaufen kam. Das Bild war inzwischen vertraut. Seit dem Abend in der Bibliothek war fast kein Tag vergangen, an dem Lucien dem Kadetten nicht begegnet war. Ihre Wege hatten sich immer wieder gekreuzt. Jedes Mal, wenn der Junge Lucien aus der Ferne gesehen hatte, war er zu ihm gelaufen, hatte ihn begrüßt und ihm unbedeutende Dinge erzählt. Lucien wusste nicht, wieso er ihm immer mit einem Lächeln zugehört hatte.

Es sind diese Augen. Sie leuchten so wundervoll. So ehrlich.

“Magister Lucien …“ Der Junge war bei ihm angelangt, aber vollkommen außer Atem.

“Hol erst einmal Luft“, schlug Lucien vor.

Der Kadett beugte sich vor, stützte die Hände auf seine Oberschenkel und füllte seine Lungen mit tiefen Zügen. Lucien betrachtete seine Paradeuniform, die ihm wie angegossen saß. Freundlich klopfte er ihm auf den Rücken.

“Magister Lucien, warum seid Ihr nicht in der großen Halle?“, fuhr der Kadett auf. “Die Zeremonie wird gleich anfangen.“

Lucien seufzte. “Ich werde nicht daran teilnehmen“, erklärte er.

Der Junge starrte ihn verwirrt an. “Was ist geschehen?“

Lucien hob die Schultern. “Nichts. Ich habe mich nur entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Meinen eigenen. Und das ist im Moment einer, auf dem mich niemand begleiten kann. Erst recht kein tollpatschiger, ewig nörgelnder Bannbrecher.“

Oh sieh mich nicht so an! Das bricht mir noch das Herz.

“Aber Magister Lucien …“ Das Gesicht des Jungen war praktisch schmerzverzerrt. “Ohne Bannbrecher … wie wollt ihr … sie sagen, ein Magier ohne seinen Wächter sei …“ Tränen füllten die Augen, trübten ihren Glanz.

Lucien legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und sagte eindringlich: “Ich bin kein Diener des Chaos. Ich bin kein Diener des Dunklen Meisters. Ich diene niemandem außer mir und das auf die Art, wie ich es für richtig erachte. Ich habe meinen Weg, ich sehe ihn deutlich vor mir. Ich kann niemand mit mir nehmen, weil er schmal und gefährlich ist und das Ziel ungewiss.“

Der Kadett zog geräuschvoll die Nase hoch. Das Funkeln war in seine Augen zurückgekehrt und er öffnete den Mund.

Lucien kam ihm zuvor: “Nein. Ich werde dich nicht mitnehmen.“ Er seufzte. “So gerne ich es auch täte – ich kann keinen voll ausgebildeten Bannbrecher dieser Gefahr aussetzen. Und dich erst recht nicht.“ Er strich dem Jungen über die Haare, berührte kurz die Narbe auf seiner Stirn. “Du hast eine große Zukunft vor dir. Du wirst ein großartiger Bannbrecher werden und das Chaos bekämpfen. Aber nicht heute. Deine Zeit kommt erst noch. Meine ist jetzt.“

Lucien riss sich los und drehte sich um. Er kam nur einige schwere Schritte weit, als der Junge ihm nachrief: “Versprecht Ihr mir, dass Ihr nie dem Chaos dienen werdet?“

Lucien lächelte. “Darauf hast du mein Wort.“

Der Junge schniefte und straffte seine Schultern: “Dann verspreche ich auch, dass ich das Chaos bekämpfen werde! Ich werde ein großartiger Bannbrecher werden! Der beste, den es je gab!“

Lucien holte Luft und musste für einen Augenblick gegen das Lachen ankämpfen, das in ihm aufstieg. Er blickte den Jungen an, dessen Name er immer noch nicht wusste, erkannte in seinen Augen dieses herrliche Leuchten und wusste, dass es ein Widerschein dessen war, was der Junge vor sich sah.

“Wie heißt du?“, wollte Lucien wissen.

“Kadren.“

Lucien lächelte. “Wenn du mir das versprichst, Kadren, dann verspreche ich, dass ich zurückkommen werde um dich zu holen, wenn du dein Ziel erreicht hast.“

“Ihr werdet zurückkommen?“ Der Junge starrte ihn hoffnungsvoll an.

Lucien nickte. “Für dich. Ich werde zu dir zurückkommen.“

Bevor ihm das Strahlen, das von Kadren ausging, noch Herz und Seele verbrennen konnte, wandte Lucien sich wieder um und ging seinen Weg.

Über Zaraban begann das Feuerwerk, füllte den Abendhimmel mit bunten Lichtern und tanzenden Formen. Lucien schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Er ging stumm weiter, ließ die Akademie und die Stadt, das Land und dann Asarien und schließlich die Welt hinter sich zurück.

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