#12 | Die Ruine
Unter Vargas’ Stiefeln knirschten Steine. Ein feiner Luftzug strich ihm über die Haut und durch den muffigen Geruch des Sacks über seinem Kopf hindurch konnte er die Furcht der Menschen riechen – und das Blut. Es hatte den Boden dieses Ortes getränkt, war tief mit seinem Wesen verbunden. Der metallischem Duft war allen Alben bestens vertraut. Hier war er zwar anders – älter, mächtiger, durchdringender – aber trotzdem wusste Vargas, dass es nicht das war, was ihm ein Prickeln über den Rücken laufen ließ.
Es war nicht das erste Mal, dass Vargas es spürte. Er hatte es oft genug als Einbildung abgetan, es auf Zorn und Alkohol geschoben. Aber dieses Mal war es eindeutig: was auch immer in ihm war, reagierte auf diesen Ort. Etwas regte sich in Vargas und ließ ihn schaudern und zucken.
Jemand stieß ihm in die Kniekehlen. Vargas knickte ein und wurde weiter hinunter gedrückt. Eher er einen klaren Gedanken fassen konnte war er auf den Knien. Seile spannten sich um ihn herum, schnitten ihm in Haut und Fleisch und hielten ihn wo er war.
Zorn stieg in ihm auf wie blutroter Nebel, schob sich zwischen Vargas’ Selbst und das Grauen um ihn herum. Er stemmte ihn gegen die Fesseln und entrang ihm ein tiefes Knurren.
Der Sack wurde von Vargas’ Kopf gezogen. Marjella warf ihn achtlos beiseite. Der Bolzen ihrer Armbrust war zwischen Vargas’ Augen gerichtet.
“Also gut“, sagte sie. “Du weißt genauso wenig wie wir, was genau wir hier suchen. Aber du wirst es erkennen, wenn du es siehst, hat man mir gesagt.“
Vargas sah auf, in ihre durchdringend blauen Augen, und spuckte aus.
Sie seufzte. “Na komm schon. Irgendwo hier liegt die erste Waffe verborgen. Ich könnte sie alle ausprobieren, aber das würde ewig dauern.“
Vargas’ Blick glitt zur Seite. Die Menschen hatten ihn auf einer leicht erhöhten, runden Plattform festgebunden. Die metallenen Ringe, durch die die Seile liefen, waren offenbar vor tausenden von Jahren zu genau diesem Zweck geschaffen worden. Der Boden unter Vargas war voller Kerben und Kratzer und dunkler Flecken. Um den Altar herum lief ein breiter Graben, angefüllt mit zahllosen Klingen. Sie alle hatten ihren Glanz verloren, waren stumpf, schartig und voller Rost. Aber die Tode, die sie einst gebracht hatten, lagen wie ein düsterer Schleier über ihnen. Ein einzelner Funken durchbrach ihn.
Vargas riss seinen Blick davon los. “Nein.“
Marjella drückte ihm die Spitze des Armbrustbolzen an die Stirn, bis ein dünner Rinnsal Blut entstand. “Sag’ mir, welches davon die erste Waffe ist. Das ist alles, was ich will.“
“Du wirst mich töten“, stellte Vargas fest und konnte ein zufriedenes Lächeln nicht zurückhalten. “Warum sollte ich dir helfen?“
“Sterben wirst du.“ Marjella hob die Schultern. “Die Frage ist, ob es durch einen Bolzen in deinem Auge passiert, oder durch tausend rostige Klingen.“ Sie nickte zu den alten Schwertern hinüber. “Eines davon wird auf dich reagieren. Wenn du Glück hast, ist es unter den ersten hundert.“
Vargas lachte hart auf. Die verfallenen Mauern um ihn herum hallten schaurig. “Ich habe Zeit.“
Marjella ließ die Armbrust sinken und schüttelte den Kopf. “Bist du immer so stur?“
“Ich werde dir nicht geben, was du willst“, knurrte Vargas. “Und es gibt nichts, das du mir nehmen könntest. Ich habe keine Angst vor Schmerzen, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich bin Krieger der königlichen Garde. Ich bin ein Alb.“ Er spuckte aus. “Und ich bin ich. Mach was du willst. Wir verrotten hier gemeinsam.“
Marjella sah ihn an und er begegnete ihrem Blick mit allem was er hatte. Es war keine Fassade, kein Schauspiel, nur er selbst.
Sie hob die Brauen und atmete durch. “Schön.“ Dann legte sie die Armbrust beiseite und zog statt dessen ein Messer. Es hatte eine kurze Klinge, kaum geeignet um tiefe Wunden zuzufügen. Vargas spannte die Muskeln an. Sein Rücken brannte.
“Na los“, forderte er. “Ich hab nichts andres vor.“
Marjella lächelte und es wirkte tatsächlich etwas gequält. “Ich hasse das wirklich, weißt du? In die Köpfe anderer zu schauen, meine ich.“
Die Spannung in Vargas’ Muskeln wurde zu einem Krampf. Marjella sah es und nickte. “Deswegen benutze ich das, was ich bei solchen Ausflügen finde, nicht gerne. Aber in deinem Fall mache ich eine Ausnahme. Weil wir soviel Spaß miteinander hatten.“
Sie drehte das Messer zwischen ihren Fingern und machte einen Schritt zur Seite. Langsam ging sie an Vargas vorbei, behielt ihm im Auge, während er es nicht schaffte, sich zu bewegen.
Nein!
Sein Instinkt brüllte auf wie das verwundete Tier, das er war, wollte sich losreißen, fliehen, kämpfen, töten, entkommen. Aber sein Körper war gebunden. Die Schmerzen der Erinnerungen füllten ihn mit eiskaltem Grauen.
Er spürte Marjella hinter sich stehen. Das Gefühl war schrecklich vertraut, ließ seinen Nacken verkrampfen und zwang seinen Kopf nach vorne, nach unten.
Er konnte nichts dagegen tun, konnte sich nicht rühren, konnte nicht schreien.
Genau wie beim letzten Mal.
“Nichts, was ich dir nehmen könnte?“ Marjellas Stimme kam von fern, umhüllte Vargas, nahm ihm den Atem.
Nichts, das sie mir nehmen kann. Nichts, das man mir nicht schon einmal genommen hat. Sie kann mich nicht töten. Man hat mich schon umgebracht.
Die Hand auf seinem Kopf ließ Vargas aufschreien. Er schnappte nach Luft. Die Finger strichen ihm sanft über die Haare, von der Stirn langsam nach hinten, schlossen sich dort um den dünnen Zopf, fassten ihn, schlangen ihn mit einer leichten Drehung fest um sich und zogen ihn stramm.
Vargas spürte die Klinge hinter sich. Er wünschte sie vor sich, wünschte sie in sein Auge, an seine Zunge, an seine Kehle, in sein Herz.
Nicht noch einmal. Nicht das! Nicht dieser Schmerz, diese Dunkelheit.
Es gab nur einen Ausweg, einen Funken Hoffnung.