Klares Sonnenlicht strahlte durch die Blätter des Waldes die im Wind tanzten. Es war ein wundervoller Anblick, dachte Vikar Cormu und schloss die Arme fester um das Buch aller Bücher. Wie großzügig der Erleuchtete doch war, ihm diesen Schimmer der Hoffnung zu schicken. Cormu war dankbar. Ja, sehr dankbar. Es gab wenig für das er in diesem Moment noch dankbarer hätte sein können. Eine Leiter zum Beispiel. Damit hätte Cormu die Grube verlassen können, in der er saß.
Man hatte ihn gelehrt, dass man für die Dinge, die der Erleuchtete gab, dankbar sein musste, anstatt um die zu trauern, die er versagte. Also sandte Cormu ein weiteres Gebet zum leuchtenden Himmel hinauf, um deutlich zu machen, wie froh er darüber war, dass er sich bei seinem Sturz in die Bärenfalle nichts gebrochen hatte und auch den zugespitzten Pflöcken, die im lehmigen Boden der Grube steckten, entgangen war. Der Erleuchtete hatte seine Hand schützend über seinen Diener gehalten. Wenn er sie ihm jetzt nur such noch entgegen strecken würde, um ihm aus der Fälle heraus zu helfen …
Cormus Blicke glitten über die steilen, glatten Wände. Nicht einmal Wurzelstränge, an denen er sich hätte festhalten können, ragten daraus hervor. Jemand war fleißig und sehr sorgfältig gewesen. Nur das Warnschild hatte die Person offensichtlich vergessen. Cormu seufzte. Möge der Erleuchtete dem Gedankenloses verzeihen und den Verzweifelten aus seiner unverschuldeten misslichen Lage befreien.
Vor einigen Stunden hatte Cormu aufgehört zu zählen wieviele solcher Gebete er schweigend und auch laut zum Erleuchteten gesandt hatte. Er war ein besonnener und geduldiger Mann. Aber ganz langsam beschlich ihn die Frage, ob er noch vor dem Abend mit einer Antwort rechnen durfte. Er wartete immerhin schon seit dem frühen Morgen darauf.
Um sich abzulenken schlug Cormu das Buch auf und las einige Psalme. Sie beruhigten ihn immer, waren Balsam für seine Seele. Er rezitierte laut, um das Knurren seines Magens zu übertönen.
“Das sind schöne Gedichte.”
Cormu schreckte zusammen, stemmte sich in die Höhe und hätte beinahe einen lauten Freudenschrei ausgestoßen. Mit Tränen in den Augen blinzelte er zum Rand der Grube hinauf, wo sich ein Schemen vor die tanzenden Blätter geschoben hatte. Das Sonnenlicht blendete Cormu und er wischte sich über die Augen bis der Schattenriss Tiefe und Kontur gewann.
Ein heißerer Schrei entfuhr Cormu und vollführt automatisch die Geste des Schutzes. Möge der Erleuchtete mich schützen, fuhr es ihm durch den Kopf. Ein leibhaftiger Troll!
Das breitschultrige Wesen mit den langen Ohren und dem wilden Haar beugte sich etwas tiefer, nahm Cormu genau in Augenschein. Es trug einen Speer bei sich, dessen grobe, steinerne Spitze es auf Cormu richtete. Der Vikar drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand der Grube und flehte den Erleuchteten stumm um Hilfe an.
“Jetzt pack schon zu!“, rief der Troll von oben herab. “Dann zieh ich dich da raus.“
Cormu hob den Kopf. “Lieber sitze ich in dieser Fälle als mich in deine Klauen zu begeben, Unhold.“
Der Troll zog den Speer zurück. “Achso, entschuldige bitte. Ich wusste nicht, dass du absichtlich da unten sitzt. Hast du eine gute Aussicht?”
“Verspotte mich nicht, Scheußal! Meine missliche Lage mag dein Wohlgefallen finden, aber ich bin ein Mann des Glaubens. Ich werde diese Prüfung Gottes bestehen.“
Verlegen kratzte sich der Troll die große, gebogene Nase. “Nur damit ich das richtig verstehe: du sitzt da unten in der Falle, willst aber nicht raus, weil dein Gott es so möchte?“
Cormu schnaubte. “Er hat mir diese Prüfung auferlegt, ich werde sie bestehen und gestärkt daraus hervorgehen. Durch seine Macht!“
Der Troll nickte. “Klingt gut.“ Dann verschwand er.
Cormu starrte zum Rand der Grube hinauf.
Der Kopf des Trolls schob sich erneut vor das Licht. “Nur damit ich Bescheid weiß – wie lange wird das Ganze dauern? Ich bräuchte meine Grube wieder, weißt du? Ich meine … kein Problem wenn du und dein Gott sie mal eben für ein … was auch immer, braucht. Aber ich wollte einen Bären fangen. Die Kleinen haben Hunger.“
Cormu hob das Kinn. “Es wird so lange dauern bis der Erleuchtete mir seine Gnade gewährt.“
“Ah. Gut!“ Der Troll schwieg. Dann fragte er: “Wie genau sieht die aus?“
Cormu zögerte. “Nun … er wird jemanden schicken, der mir hilft.“
“Oh.“ Die breite Stirn des Trolls überzogen sich mit tiefen, nachdenklichen Falten. “Du meinst so wie ich gerade? Als ich dich da rausholen wollte.“
“Nein“, Cormu lächelte wissend. “Du bist Teil der Prüfung. Ich werde nicht auf deine schmeichelerischen Worte und falschen Versprechungen hereinfallen, Ungeheuer. Ich werde stark sein und ausharren. Du wirst mir nicht das Mark aus den Knochen saugen!“
Der Troll verschwand. Dann kam er zurück, sah Cormu verwirrt an und ging wieder. Einen Augenblick später tauchte er abermals auf. “Wie bitte?“
“Was?“
“Der letzte Teil. Das mit den Knochen. Das habe ich nicht ganz verstanden.“
“Du wirst mir nicht das Mark aus den Knochen saugen, sagte ich.“
“Ja, gehört habe ich dich. Aber wie kommst du auf die Idee, dass ich das vorhatte?“
Cormu drückte das Buch fester an sich. “Trolle tun das. So steht es geschrieben.“
“Steht es?“ Der Troll verzog das Gesicht. “Da drinnen? Bei den ganzen schönen Gedichten?“
Cormu nickte und zögerte dann. “Nicht im gleichen Kapitel, natürlich. Die Psalme sind zur Erbauung der Seele, während der Teil über Trolle eine Warnung ist.“
“Ahja. Tu mir den Gefallen und sag dem Autor Bescheid, dass er sich irrt. Also bei dem Abschnitt über Trolle. Die fressen keine Menschen. Also ich tue das nicht. Und niemand den ich kenne. Zugegeben, Vetter Brobbtobb hat das mal gemacht, ja. Aber er war schon immer etwas seltsam. Wir reden seit Jahren nicht mehr mit ihm. Also im Großen und Ganzen fressen Trolle keine Menschen.“
Cormu starrte zu dem Troll hinauf. “Aber es steht so geschrieben!“
“Ach ja? Wer das geschrieben?“
“Es ist die Heilige Schrift! Gottes Worte! Uralte Überlieferungen!“
“Tatsache? Vielleicht hat sich da inzwischen was getan. Das mit den Trollen stimmt jedenfalls nicht mehr.“
Cormu schüttelte die Verwirrung ab und rief herausfordernd: “Versuch nicht mich zu überlisten, Ungeheuer. Ich glaube dir nicht.“
“Wieso nicht?“
“Weil du ein Troll bist.“
“Gerade weil ich ein Troll bin würde ich annehmen, dass ich eine zuverlässige Quelle bin, was das Verhalten von Trollen angeht.“
“Nein. Trolle sind nie glaubwürdig. Sie lügen immer.“
Der Troll kniff die Augen zusammen. “Steht das auch in dem Buch?”
Cormu nickte. “Es enthält all das Wissen, das ich brauche um in dieser Welt zu bestehen.“
“Auch, wie du ohne meine Hilfe aus dieser Grube heraus kommst?’
Cormu schluckte. “Jemand wird kommen und mich retten.“
“Ja. Ich.“ Der Troll hob die breiten Schultern. “Sonst ist hier kaum jemand unterwegs.“
“Gott wird mir jemanden schicken.“
Der Troll kratzte sich das Kinn. “Und wenn er das schon getan hat?“
Cormu blinzelte verwirrt. “Wie meinst du das?“
“Was, wenn dein Gott dir mich geschickt hat?“
“Das würde er nicht tun.“
“Warum nicht?“
“Weil Gott Trollen nicht vertraut. Sie sind scheußliche Kreaturen.“ Cormu zögerte. “Ohne dir nahetreten zu wollen.“
Der Troll entblößte seine langen Zähne in einem schiefen Grinsen. “Keine Sorge. Von Leuten die in einer Grube sitzen und offenbar lieber Worte fressen und ihre eigene Pisse trinken als sich retten zu lassen, lasse ich mich nicht beleidigen.“
Cormu schnappte nach Luft. “Wie kannst du so etwas sagen?!“
“Ist mein Ratschlag – für den Fall dass du demnächst da unten Durst bekommst. So gewinnst du ein paar Tage. Ich muss jetzt weg, eine neue Grube graben.“
Der Troll verschwand.
“Warte!“, schrie Cormu, bevor er wusste was er tat.
Für einen schrecklich langen Augenblick geschah nichts. Dann erschien der Troll wieder. “Was ist?”
Cormu biss sich auf die Lippen. “Du sagst also, du würdest mich nicht auffressen?“
“Sagte ich.“
“Und ich kann dir vertrauen?“
Der Troll grinste wieder. “Nun, du kannst entweder mir vertrauen, oder deinem Buch.“
Cormu drückte das Buch so feste an sich, dass ihm die Ecken hart in die Brust stachen. “Das Buch ist wichtig. Es hat mich hierher geführt.“
“In die Falle?“
“Nein! Es hat mich dazu bewogen ein Mann des Glaubens zu werden, ein Diener Gottes. Ich bin in dieses Land gekommen um sein Wort zu verbreiten.“
“Welches Wort? ‚Nimm keine Hilfe an wenn du sie brauchst’?“
“Nein!“, entfuhr es Cormu wütend. “Das andere! Die Psalme.“
“Ah. Ja, das ist eine gute Idee.“
Cormu schnaubte ärgerlich. “Aber die Menschen hier hören nicht auf mich.“
“Es könnte daran liegen, dass du ihnen auch erzählst Trolle würden lügen. Die meisten Leute hier wissen, dass das nicht stimmt.“
Verwirrt öffnete Cormu den Mund und klappte ihn dann wieder zu. Der Troll stand noch immer da und sah auf ihn herab.
“Ich mach dir einen Vorachlag“, sagte er schließlich. “Ich hole dich da raus. Ich werde dich nicht auffressen. Dann musst du dich nicht auf mein Wort verlassen, was das betrifft, sondern kannst deiner eigenen Erfahrung trauen. Und dann kannst du die Stelle über Trolle in deinem Buch streichen. Das würde vieles einfacher machen, nicht wahr?“
Cormu blickte auf das Buch. Es war dick und schwer, im festes Leder gebunden. Sein Anker. “Ich kann nicht einfach Stellen streichen. Die Schrift ist heilig.“
“Aber nicht besonders sinnvoll, oder?“
Erschöpft ließ Cormu die Schultern hängen. “Heilig bleibt heilig, auch wenn es keinen Sinn ergibt.“
“Tut es das?“ Der Troll legte den Kopf zur Seite.
“Nicht?“
”Keine Ahnung. Du bist der Mann des Glaubens. Was glaubst du?“
Mit bebender Stimme gestand Cormu: “Ich glaube, ich will hier raus.“
Der Troll nickte zufrieden und streckte Cormu wieder seinen Speer entgegen.
Cormu starrte ihn an. Seine Hände hielten das Buch. Er konnte seine Finger nicht davon lösen.
“Mach schon“, sagte der Troll.
Mit aller Kraft zwang Cormu sich dazu das Buch loszulassen. Er wollte es auf den Boden legen, als der Troll von oben herab rief: “Nein, nein! Nimm das mit! Die Stelle mit den Gedichten ist toll.“
Überrascht sah Cormu auf. “Aber was ist mit dem Rest?“
“Es ist dein Buch, oder?”, meinte der Troll. “Streich einfach die Stelle mit den Trollen raus. Oder schreib an den Rand ‚Die meisten Trolle fressen keine Menschen’.“
Cormu sah zu dem Troll auf. “Aber dann sind es keine heiligen Worte mehr.“
“Nein. Nur noch deine“, antwortete der Troll. “Und jetzt nimm den Speer. Ich hol dich da raus und dann gehen wir etwas essen. Ich will noch ein paar von den Gedichten hören.“