Flach – so ziemlich das härteste Urteil, dass man über ein Buch und die Figuren darin fällen kann. Jeder Autor fürchtet es, denn es bedeutet, dass man etwas ganz grundlegendes falsch gemacht hat und wenn man das Projekt nicht in die Tonne treten will, muss man praktisch ganz von vorn anfangen, alles neu planen, systematisch vorgehen und alle Elemente präzise aufeinander abstimmen und zusammenfügen.
Und genau da liegt eigentlich der Fehler. Gerade was Figuren betrifft läuft man auf diese Weise Gefahr, ein Konstrukt zu erschaffen statt eines Charakters.
Tor in eine neue Welt
Einen guten – und damit meine ich nicht “gut” im Sinne von moralisch vorbildlich (wobei das sogar noch einige zusätzliche Tücken hat), sondern einen logischen, nachvollziehbaren und emotional und intellektuell ansprechenden – Charakter zu erschaffen ist harte Arbeit. Und eine der wichtigsten Aufgaben des Autors. Denn nur durch solche Charaktere können Leser einen wirklichen Zugang zur Geschichte finden. Identifikation ist hier das Schlagwort – das Hinein-Versetzen in einen Charakter, das Miterleben und Mitfühlen. Das funktioniert nur, wenn wir als Leser auf Figuren treffen die wir verstehen können. Sie müssen uns nicht einmal wirklich sympathisch sein, aber wir müssen ihre Motivation und ihres Handlungen nachvollziehen können.
Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass der Leser einen Anknüpfungspunkt findet, wo er Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und der Figur erkennt. Das halte ich aber für einen untergeordneten Faktor. Wesentlich wichtiger ist meiner Meinung nach, dass ich als Leser das Gefühl bekomme, dass ich es mit einem echten Menschen zu tun habe, nicht mit einer Hülle, die vom Autor geschaffen wurde, um als Träger für eine Perspektive zu dienen, durch deren Augen der Leser das Geschehen betrachtet.
Der Schlüssel
Um dem Autor diese Aufgabe zu erleichtern gibt es zahlreiche Schemata und Herangehensweisen – von den drei Konfliktebenen (Robert McKee) bis zu seitenlangen Charakterbögen, auf denen man alles eintragen kann, vom Aussehen des Charakters, über seine sozialen und familiären Hintergründe, bis hin zu seiner Lieblingsfarbe.
Hilfreich, zugegeben. Aber ich persönlich verliere an so etwas nach den ersten zwei Seiten die Lust.
Meine Vorgehensweise beim Erschaffen von Charakteren ist die Ins-kalte-Wasser-Methode: ich lasse meine Figuren auf die Handlung und die anderen Figuren los und schaue was passiert. Natürlich habe ich ein grundlegendes Bild von meinen Figuren im Kopf, weiß was sie wollen und wie sie sich verhalten werden. Und trotzdem schaffen sie es immer wieder aufs Neue, mich komplett zu überraschen, zum Lachen zu bringen und zu schockieren.
Wenn ich eines aus meiner Arbeit als Autor gelernt habe, was meine Charaktere angeht, dann dies: jeder hat eine Leiche im Keller.
Immer tiefer und tiefer
An dieser Stelle mal wieder ein obligatorisches Beispiel zum besseren Verständnis:
Einer meiner liebsten Charaktere im Moment ist Jarehl aus Königskinder. Er hat als netter, vernünftiger junger Mann angefangen, der seine Pflichten erfüllt, auch wenn man ihm dabei Steine in den Weg legt.
Überrascht hat er mich, als ich heraus gefunden habe, mit welcher Vehemenz er solche Steine zum Teil bei Seite räumt. Irgendwann lernte ich, dass er nicht nur ein verdammt guter Kämpfer ist, sondern dazu auch noch ein kaltblütiger.
Oder zumindest macht er äußerlich den Anschein. Denn wie sich heraus stellte, bereitet ihm diese Eigenschaft Gewissenskonflikte.
Er muss sie aber einsetzen, um seine Ziele zu erreichen, die allesamt an sich ehrbar sind.
Und erst als man ihn immer weiter und weiter reizt und alle anderen Möglichkeiten verbaut, ihn seelisch demontiert, lernt er seine dunkle Seite wirklich zu akzeptieren und einzusetzen.
Am Ende der Geschichte ist er nicht mehr der, der er einst war und gewiss nicht das, was ich mir für ihn gewünscht und eigentlich geplant hatte.
Und nun?
Nicht jeder Autor kommt mit solchen Charakteren zurecht. Aber die meisten, die ich kenne wissen, wovon ich hier spreche. Es ist dann eine Frage der Einstellung als Autor, wie man auf diese Ausrutscher seiner Charaktere reagiert – lässt man sie einfach machen und erhält eine characterdrivene Handlung, oder bringt man sie zurück auf Spur, damit die Handlung den gewünschten Bahnen folgt und die Geschichte plotdriven bleibt?
Ich selbst bevorzuge es, meinen Charakteren erst einmal freie Hand und freie Gedanken zu lassen, mit ihnen zusammen die Welt zu entdecken und sie dabei besser kennen zu lernen. Es ist spannend zu sehen, welche Beziehungen sich dabei entwickeln und heraus zu finden, was tatsächlich hinter der Motivation einer Figur steckt.
Echte Perlen
Nachdem ich das alles über Jarehl erfahren hatte, konnte ich nicht nur ihn besser verstehen, sondern auch meine Handlung. Ich sah gewisse Zusammenhänge, die mir vorher nicht ganz klar gewesen waren und begriff wie ich das alles besser hervorheben und auch benutzen konnte, um meine Geschichte spannend und vielschichtig zu gestalten.
“Vielschichtig” – das ist glaube ich das wichtigste Wort in diesem Artikel. Es hängt eng mit den zuvor erwähnten drei Konfliktebenen zusammen, die aber nur eine sehr vereinfachtes Schema sind, an dem man sich grob orientieren kann. Wichtig ist, dass solche Schichten und Ebenen nicht konstruiert werden, sondern von alleine wachsen. Die wirkliche Arbeit kommt dann, wenn man versucht, sie zu verstehen und in Text und Handlung zu integrieren.